Ich stelle nochmal vorweg, ja das Management in einem Tierheim ist ein "handfestes Argument", keine Frage. Aber Kastration mal ganz allgemein betrachtet, dass es für ein Tier Vorteile bringt, kastriert zu werden, das möchte ich gerne in Frage stellen.
Ich finde es gar nicht so leicht, herauszufinden, ob, wann oder wie stark ein Hund unter seiner hormonellen Situation "leidet", denn wir können ihn ja nicht fragen. Ist es eine Tatsache oder doch eher Interpretation?
Früher wurde auch das Abschneiden von Ohren und Ruten mit "zum Wohl des Hundes" begründet - wegen der Verletzungsgefahr. Und ja, tatsächlich, nicht selten hatte ich in meiner "Hundehalterkarriere" verletzte Ohren bei den Hunden. Und die bluten meist ordentlich, kann ich bestätigen. Allerdings hatte ich nicht das Gefühl, dass der Hund darunter dolle gelitten hätte, er fand's eher lästig, hat sich geschüttelt.... Gelitten habe wohl eher ich - und meine Tapete.

. Würde ich deshalb das Abschneiden der Ohren gutheißen? Nein, auf keinen Fall, natürlich nicht. Aber die Argumentation kenne ich durchaus. Gott sei Dank stirbt sie langsam aus (und es gibt da ja das Tierschutzgesetz....).
Aber zurück zu den Sexualorganen und -hormonen. Ich überlege für mich selbst gerne eine vergleichbare Situation, wenn ich es beim Hund nicht einzuschätzen weiß. Also zum Beispiel: leide ich unter meiner Periode? Naja, würde ich antworten, ein bisschen schon. Ich bekomme schneller fettige Haare oder zumindest liegen sie in den Tagen nicht so recht. Auch mit meiner Laune ist es ein paar Tage nicht zum Besten, ich fühle mich dick und hässlich und ziehe mich morgens noch zweimal um, weil ich mir nicht gefalle, ja vielleicht bin ich auch ein bisschen zickig, mag sein.

Aber würde ich deshalb eine Vollnarkose in Kauf nehmen, einen Bauchschnitt, die Amputation meiner Sexualorgane verbunden mit dem lebenslangen Risiko der fehlenden Hormone? Nein, definitiv nicht. Es gibt tatsächlich Frauen, die diese Entscheidung für sich treffen. Aber das sind doch eher wenige.
O.k. aber was ist mit der Scheinträchtigkeit? Das lässt sich nicht direkt mit dem Menschen vergleichen, denn eine Scheinschwangerschaft ist beim Menschen pathologisch, bei der Hündin aber pysiologisch (also normal und von der Natur so vorgesehen). In der Scheinträchtigkeit befindet sich eine Hündin hormonell im gleichen Zustand, als wäre sie tatsächlich trächtig. Tja und dann kann ich es doch wieder ein wenig vergleichen. In meinen eigenen Schwangerschaften fühlte ich mich schon in den ersten Monaten schnell müde, habe nach der Arbeit viel mehr Zeit auf der Couch verbracht, oft die Beine hochgelegt. Allerdings empfand ich das Gefühl eher angenehm als dass ich darunter gelitten hätte. Natürlich gibt es auch andere Schwangerschaften mit viel Übelkeit .... Das wiederum habe ich bei Hündinnen in der Ausprägung bisher nicht erlebt, dass sie sich ständig übergeben müssten etc. Aber dass sie teilweise weniger aktiv sind, häuslicher, sich mit dem Thema "Nestbau" beschäftigen, ist das wirklich Leid? Und rechtfertigt das die entsprechende OP? Auch das würde ich für mich mit nein beantworten.
Ich hatte mal eine Patientin in der Praxis, die nach der Läufigkeit immer wieder eine (offene) Pyometra bekam. Nach einem Gespräch mit dem Halter und dem Rat, die Hündin in der Scheinträchtigkeit mal nicht mit zum Joggen zu nehmen, reichte um hier Abhilfe zu schaffen. Wobei generell Erkrankungen - insbesondere eine geschlossene Pyometra - ja tatsächlich die Kastration indizieren. Ich möchte nur aufzeigen, dass sportliche Leistungen während der (Schein-)Schwangerschaft nunmal nicht jedermanns Sache sind.... und dennoch der Zustand nicht unbedingt als "Leiden" zu werten ist.
Und nun noch die Rüden. Ja, sicherlich sind sie "sexuell erregt", wenn läufige Hündinnen in der Nähe sind. Aber auch da möchte ich mal kritisch fragen, ist das "Leid"? Oder ist das unsere Interpretation? Das kann ich mir als Frau nun noch weniger vorstellen. Ich möchte mal die Männer fragen, ob sie unter sexueller Erregung leiden und ob die Tatsache, dass sie eine Frau, die sie sexuell erregt und die sie dennoch nicht zur Sexualität "überreden" können, rechtfertigen würde, dass sie sich kastrieren lassen.
Tatsächlich gibt es einzelne Tage, an denen Merlin vor lauter Erregung nicht fressen will. Aber ich kenne auch Menschen, die nichts essen können, wenn sie erregt sind (positive wie negative Erregung). Aber ist das jetzt wirklich Leid? Es ist noch kein (gesunder) Hund vor'm vollen Napf verhungert. Und wenn er denn dann mal nicht fressen will, dann ist es in dem Moment vielleicht einfach mal nicht so wichtig. Er könnte ja, wenn er wollte....
Hormonelle Schwankungen gehören doch irgendwie zum Leben dazu. Warum werden sie beim Hund so oft als rund herum negativ dargestellt? Wäre das Leben nicht arg langweilig ohne Emotionen? Auch bei Hunden kann man zum Teil beobachten, dass sie phlegmatischer werden nach einer Kastration. Klar die beschriebenen "Stimmungsschwankungen" fehlen einfach. Ich könnte jetzt im Gegenzug die Behauptung aufstellen, dass der Tatbestand, dass sie teilweise vermehrt fressen oder zumindest futterorientierter sind, "Leid" bedeutet. Menschen essen sich Kummerspeck an. Vielleicht tun Hunde das auch? Klar, auch das ist Interpretation - und volle Absicht.
Mein Fazit: Im Tierschutz bleibt es ein sehr schwieriges Thema. Aber beim "Haushund", Gesundheit vorausgesetzt (und Scheinträchtigkeit ist definitiv keine Erkrankung), stellt sich für mich die Frage nicht.
So, sorry für diese "elend lange Abhandlung". Aber es ist mir echt ein riesen Anliegen. Und ich finde es so schade, dass so wenig hinterfragt wird und oft immer noch so unbedacht kastriert wird - und damit meine ich jetzt nicht den Tierschutz.
Toll finde ich hingegen, dass es mittlerweile Tierärzte gibt, die sich weigern, gesunde Hunde zu kastrieren. Hut ab!
